Gesichter und Geschichten

Hier gibt es in unregelmäßigen Abständen kurze anonymisierte persönliche Geschichten und Lebensläufe junger Wissenschafter:innen. Wir wollen damit die vielfältigen realen Schwierigkeiten und Probleme des akademischen Prekariats sichtbar machen und den leeren Worthülsen der Politik und Uni-Verwaltung („Keine Innovation ohne Fluktuation“ etc.) reale Geschichten entgegenhalten. Wenn auch Du eine Geschichte beisteuern willst, melde dich bei uns!


  • Wir sind Lena

    Name und Alter: Lena, Anfang 30
    Persönliche Situation: 2 Kinder, verheiratet, EU-Bürgerin

    Werdegang: Bachelor, Master, Doktorat im MINT-Bereich an einer österreichischen Uni, Habilitation in Planung
    Anstellungen: Praedoc und Postdoc an einer österreichischen Uni, Postdoc Stipendiatin an einer deutschen Uni (FWF Schrödinger Stipendium); zwei Elternkarenz-Unterbrechungen

    Nach Studium und Promotion erhält Lena eine unbefristete Postdoc-Stelle an einer österreichischen Universität – ein sicherer Hafen in der akademischen Welt. Sie entscheidet sich jedoch bewusst für einen Auslandsaufenthalt und erhält das renommierte Schrödinger-Stipendium des FWF – eine einmalige Chance, ihre Forschung voranzutreiben. Nach einer einjährigen Elternkarenz im Anschluss an die Geburt ihres ersten Kindes nimmt Lena das Stipendium in Anspruch. Sie widmet sich voll und ganz ihrer Forschung und meistert gleichzeitig die Herausforderungen, die das Leben als Mutter einer jungen Familie mit sich bringt. Nach Abschluss des 18-monatigen Projekts kehrt Lena nach Österreich zurück. Einige Monate später wird sie erneut Mutter und plant, ein Jahr Karenz in Österreich zu nehmen. Sie beantragt einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld – doch dann die Enttäuschung: Das Einkommen aus dem Schrödinger-Stipendium wird nicht angerechnet, da es formal als „Forschungsstipendium“ gilt und somit keine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit darstellt. Die Folgen sind gravierend: Lena hat nur Anspruch auf den Mindestsatz des Kinderbetreuungsgeldes – den gleichen Betrag, den sie ohne Erwerbstätigkeit erhalten würde. Wäre ihr Einkommen angerechnet worden, hätte sie fast das Doppelte an Kinderbetreuungsgeld erhalten. Die Entscheidung, das Schrödinger-Stipendium anzunehmen, sollte ihrer Karriere dienen. Für ihre Familie bedeutet sie jedoch einen erheblichen finanziellen Verlust. Lenas Fall zeigt, wie schwierig es für Wissenschaftlerinnen ist, Karriere und Familie unter einen Hut zu bringen. Ihre Doppelrolle als engagierte Mutter und Wissenschaftlerin wird oft nicht anerkannt, obwohl sie ein Vorbild dafür ist, dass exzellente Forschung und familiäre Verantwortung vereinbar sind.

  • Wir sind Nora

    Name und Alter: Nora, Ende 30

    Persönliche Situation: Kinder, EU-Bürgerin

    Werdegang: geistes- und sozialwissenschaftliches Studium und Doktorat in zwei verschiedenen europäischen Ländern und Gastaufenthalt in den USA
    Anstellungen in Österreich: Postdoc-Stelle, anschließend FWF-Projekt

    Nach dem Grundstudium in ihrem Heimatland und dem Doktoratsstudium in einem europäischen Land bekommt Nora eine Postdoc-Stelle an einer österreichischen Universität. Sie unterbricht die Stelle für rund ein Jahr wegen Elternkarenz, hält in dieser Zeit aber eine Lehrveranstaltung ab. Danach erhält sie die Zusage für ein FWF-Stipendium. Im Laufe des Projekts geht sie erneut in Elternkarenz, diesmal für sechs Monate. Als sie um eine Verlängerung ihres Vertrages um diese sechs Monate ansucht, wird die Verlängerung mit der Begründung abgelehnt, dass laut Kettenvertragsregelung bereits davor die maximale zeitliche Höchstgrenze von in Summe 8 Jahren erreicht wurde. Das heißt Nora verliert sechs Monate ihres finanzierten Projekts – jene sechs Monate, die sie in Karenz war. § 109 UG wirkt hier gegen junge Wissenschaftlerinnen, die es schaffen, exzellente Forschung mit persönlichen Verpflichtungen zu verbinden.

  • Wir sind Anna

    Name und Alter: Anna, 42

    Persönliche Situation: 2 Kinder im Volksschulalter

    Werdegang: Lehramtsstudium und Doktorat im MINT-Bereich, Habilitation in Arbeit

    Anstellungen: Auslandsstudium in Spanien; Praedoc an einer niederländischen Universität mit Forschungsaufenthalten in Norwegen (Marie-Curie RTN); Postdoc an einer österr. Uni, ausschließlich mit Eigenfinanzierung (Projektleitung) durch 3 FWF-Projekte, inkl. Forschungsaufenthalte in Frankreich und Deutschland. Nach 9 Jahren auf befristeten Stellen mit zwei Elternkarenz-Unterbrechungen: seit 2 Jahren Ass.-Prof. (Tenure Track).

    Anna kehrt nach vielen Jahren im Ausland (Spanien, Niederlande, Norwegen) nach Österreich zurück, mit dem Wunsch, hier zu bleiben und im Kreis ihrer Freund:innen und Familie auch ihre eigene Familie zu gründen. Sie reicht direkt nach Abschluss des Doktorats ein FWF-Projekt ein, es wird bewilligt und die Arbeit an einem freundlichen, offenen Institut unter unterstützender, wertschätzender Leitung beginnt. Im zweiten Projektjahr wird sie schwanger und sie geht in Elternkarenz. Gerne wäre sie nach der Karenz mit 20 oder 30 Stunden zurückgekehrt, aufgrund der Einschränkungen, wie lange ein FWF Projekt kostenneutral verlängert werden kann, hätte eine „Elternteilzeit“ jedoch bedeutet, das Projekt in der gleichen Zeit mit weniger Stunden abschließen zu müssen. Daher hat Anna die „Wahl“ getroffen, doch mit 40h wiedereinzusteigen. Während der Karenzzeit durften aber aus dem FWF-Projekt KEINE Gelder fließen, da ja die Projektleitung selbst in Karenz war. Zu dem Zeitpunkt waren 6 studentische Mitarbeiter:innen im Projekt angestellt und eingearbeitet (Erstellung einer Datenbank). Das heißt, die eingearbeiteten studentischen Mitarbeiter:innen durften während der Karenz nicht am Projekt weiterarbeiten und sie konnten nicht auf Konferenzen fahren (außer sie hätten die Kosten selbst bezahlt). Nachdem Anna dieses FWF Projekt abgeschlossen hatte, wurde sie erneut schwanger, hatte wiederum keine Möglichkeit, Studierende in ihrer Forschungsgruppe weiterarbeiten zu lassen, und kehrte nach der Karenz Vollzeit, ohne Forschungsgruppe, mit einem zweiten FWF-Projekt ans Institut zurück. Während des dritten FWF-Projektes – ein Jahr, bevor die Kettenvertragsregel wirksam geworden wäre – konnte sie sich auf eine Tenure-Track Stelle bewerben, die sie auch bekam. Happy End? Happy Beginning! Nach 9 Jahren war es ihr endlich möglich, langfristige Pläne zu machen und eine Forschungsgruppe aufzubauen.  Wenn man Anna fragt, wie sie so lange durchgehalten hat: absolut positive Atmosphäre am Institut, vollste Unterstützung der Leitung und einen sicheren Plan B (Lehramt).

  • Wir sind Arthur

    Name und Alter: Arthur, frische 54

    Persönliche Situation: verheiratet, 2 Stiefsöhne

    Werdegang: mehrere Diplomstudien und ein Masterstudium

    Anstellungen: Werkverträge, Freier Dienstnehmer, Lehraufträge, Senior Lecturer, Lehrkraft für besondere Aufgaben, wissenschaftlicher Mitarbeiter, akademischer Mitarbeiter …

    Akademische Laufbahn: Arthur startet verspätet seine akademische Laufbahn und ist mit großer Leidenschaft im Bereich der Lehre an mehreren österreichischen Universitäten und Hochschulen tätig. Seine inhaltlichen Forschungsschwerpunkte liegen dabei im Bereich der Inter- und Transdisziplinarität im Feld der Gesellschaftswissenschaften. Das gefällt kaum jemanden im akademischen Betrieb, weil es den Blick über die Fachgrenzen erfordert. Das macht es auch schwierig, eine:n Dissertationsbetreuer:in zu finden. Aber das ist ein anderes spannendes Kapitel! Nach acht Jahren intensiver Lehre wird erstmals die Kette schlagend. Er geht nach Deutschland und erlebt dort die Auswüchse des deutschen Wissenschaftszeitgesetzes. Befristete Tätigkeiten sind auch dort an der Tagesordnung. Deutsche Universitäten nutzen dabei die Möglichkeit der befristeten Anstellungen als Lehrersatz. Arthur lernt nach mehrmaligem Universitätswechsel in Deutschland das Phänomen von Hochdeputatsstellen kennen. Vor seiner Rückkehr nach Österreich löst er den Vertrag über eine 18 SWS-Lehrverpflichtung wieder auf. Der Wiedereinstieg in Österreich gelingt zunächst. Dann bewirbt er sich erfolgreich auf eine Karenzvertretung, also als Ersatzkraft, für maximal 14 Monate und erfährt durch die Personalabteilung, dass diese aufgrund der neuen Kette nicht angetreten werden kann. Derzeit versucht er zu klären, inwiefern Karenzvertretungen auch in die Kette fallen und bezieht sich dabei auf den Text von Günther Löschnigg „§ 109 UG neu“ im Unilex Sonderheft 2021.

  • Wir sind Martha

    Name und Alter: Martha, 51

    Persönliche Situation: feste Partnerschaft, Betreuungspflichten

    Werdegang: Diplomstudium, Doktorat in einem MINT Fach in Österreich

    Anstellungen: PraeDoc, Postdoc, Projektleiterin (Eigenfinanzierung), dazwischen viele Jahre im Ausland

    Akademische Laufbahn: Seit sie wissenschaftlich denken kann, gibt es in ihrem Bereich keine Stellen an einer Universität. Sie geht ins Ausland. Sie wechselt das Fachgebiet. Hin zu einem Gebiet, das mehr Anwendungsmöglichkeiten hat und folglich mehr Möglichkeiten der Finanzierung verspricht. An einem Forschungsinstitut im Ausland beschließt sie, ihr Berufsleben auf drittmittelfinanzierter Forschung aufzubauen. An diesem Institut im Ausland ist das möglich. Dort wird ihre Arbeit sehr geschätzt.

    Zurück in Österreich möchte sie auch ihr Wissen und ihre Erfahrung weitergeben. Nach zwei Kurzanstellungen für Massenlehrveranstaltungen (Pflichtlehrveranstaltungen) beendet die Personalabteilung einer österreichischen Universität ihre Lehrtätigkeit mit Hinweis auf §109. Jemand anderer übernimmt, für kurze Zeit.

    Mit Hilfe von ausländischen Kooperationen entwickelt sie sich (auf Drittmittelbasis) in ein Fachgebiet hinein, an dem außer ihr niemand sonst in Österreich forscht. Während sie sich die Anerkennung ihrer Scientific Community erarbeitet, wird §109 reformiert. In ihrer Umgebung ist sie nicht die einzige in ihrer Altersklasse mit einem befristeten Vertrag. Seit der UG Novelle 2021 ist ihre berufliche Zukunft extrem gefährdet. Sie empfindet die Situation als enorm belastend.

  • Wir sind Dominik

    Name und Alter: Dominik, 33

    Persönliche Situation: stark in Wien verwurzelt, feste Partnerschaft, zwei Kinder

    Werdegang: Bachelor, Master, Doktorat im MINT-Bereich an einer Wiener Uni, Habilitation in Planung

    Anstellungen: Tutorenstellen, FWF-Praedoc, jetzt unbefristet an einer FH (aber neben der Lehrtätigkeit und damit verbundener Finanzierung aus der Studienplatzfinanzierung primär drittmittelfinanziert und damit trotzdem prekär)

    Akademische Laufbahn: Stärkste negative Auswirkung auf Dominiks Laufbahn hatte sicher die Tatsache, dass längere Auslandsaufenthalte nicht in seine Lebensplanung passten (wegen der Kinder, starker Verwurzelung, Neurodivergenz, …). Mit der Position an einer FH hat es Dominik vorläufig halbwegs gut getroffen, weil zumindest die Kettenvertragsproblematik dort nicht besteht. Er ist aber dennoch primär drittmittelfinanziert und muss sich um seine eigene finanzielle Absicherung kümmern. Langfristig strebt er nach wie vor eine Dauerstelle an einer Universität in Wien an, da er sich an der FH nur sehr eingeschränkt der Forschung widmen kann. Dominik weiß aber auch, dass eine Rückkehr an die Universität ohne Auslandserfahrung schwierig werden wird.

  • Wir sind Josef

    Name und Alter: Josef, 39

    Persönliche Situation: verheiratet, 2 Kinder

    Werdegang: Diplomstudium BWL, Doktorat in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Habilitation

    Anstellungen: PraeDoc, PostDoc (1 Jahr im Ausland), Projektleiter (Eigenfinanzierung)

    Josef erfüllt alle wissenschaftlichen Qualifikationen, ist aktiv in Lehre und akademischer Selbstverwaltung engagiert. Er wirbt aufgrund seiner erfolgreichen Publikationstätigkeit selbstständig für sich und für andere Kolleg:innen Forschungsmittel ein. Danach wird er von der Personalabteilung aufmerksam gemacht, dass sein Projekt aufgrund der Kettenvertragsregel nicht kostenneutral verlängert werden darf. Nach Rücksprache mit der Leiterin der Personalabteilung wird es Josef gestattet, seinen Vertrag letztmalig zu verlängern. Dazu muss er im Vorhinein seine Kündigung unterzeichnen, danach wird sein Vertrag um ein halbes Jahr verlängert, womit Josef mit seinen Mitarbeiter:innen abschließen kann. Josef verlässt die Universität.

  • Wir sind Leo

    Name und Alter: Leo, 38

    Persönliche Situation: kinderlos und in Wien verwurzelt

    Werdegang: Masterstudium Umweltingenieurswissenschaften, Doktorat in Umweltchemie, Habilitation in Arbeit

    Anstellungen: zuerst Privatwirtschaft, danach PraeDoc und PostDoc in Wien, zwischendurch sechs Monate als Gastforscher in Deutschland; zusätzliche Lehraufträge auf einer Fachhochschule

    Akademische Laufbahn: Leo war zuerst als Doktorand für 20 Wochenstunden (Wh) angestellt, die er durch eingeworbene Drittmittelprojekte dauerhaft auf zumindest 30 Wh aufstocken konnte. Danach wurde Leo ein PostDoc-Vertrag für weitere sechs Jahre angeboten. Somit wäre seine Kette bereits über die 8-Jahres-Regel hinausgegangen und daher musste sich die Leitung vorzeitig für eine Entfristung entscheiden. So erhielt Leo mit sehr viel Glück bereits nach fünf Jahren seinen ersten unbefristeten Vertrag für 20 Wh aus dem Globalbudget, die er Dank Drittmittelgelder dauerhaft auf 40Wh aufstocken konnte. Aufgrund einer internen Nachbesetzung erhielt er einen 40Wh-Vertrag als Senior Scientist (aus dem Globalbudget). Nach über 9Jahren Drittmittel-Teilfinanzierung kann Leo endlich seine eingeworbenen Forschungsgelder direkt in seine eigene Arbeitsgruppe investieren.Die mangelnden Karriereperspektiven an seiner Alma Matar sind bekannt, da Leo mit Anfang 40 bereits seine letzte Gehaltsstufe erreicht und er für eine Professur höchst wahrscheinlich ins Ausland „flüchten“müsste.

  • Wir sind Fiona

    Name und Alter: Fiona, 41

    Werdegang: Diplomstudium Sprachen, Doktorat, Habilitation

    Anstellungen: Studienassistenz, PraeDoc, Postdoc,Projektleiterin (Eigenfinanzierung), dazwischen insgesamt 5 Jahre kürzere und längere Auslandsaufenthalte

    Akademische Laufbahn: Der wissenschaftliche Werdegang von Fiona ist auf der einen Seite von einer großen Leidenschaft für ihr Fach geprägt und auf der anderen Seite von mehreren„Kettenvertragspausen“, sprich ihrer Bereitschaft sich zwischen befristeten Anstellungen immer wieder auch arbeitslos zu melden. Die letzte Novelle des UG 2002 im Oktober 2021 und die Inflexibilität des universitären Systems haben ein weiteres Anstellungsverhältnis über ihre selbst eingeworbenen Drittmittel an ihrer Stammuniversität jedoch verunmöglicht. Nach erfolglosen Bemühungen konnte sie mit ihrem Drittmittelprojekt an eine andere Uni wechseln, wo die 8 Jahre von neuem zu ticken beginnen. Eine volle Stelle war ihr bis dato nicht vergönnt.